Kranker Mann Europas, Sozialtourismus, Ruck: Die CDU bringt die Rhetorik der Neunziger zurück. Das sagt möglicherweise mehr über die Partei aus als über die Gegenwart.

“Was ist los mit unserem Land?”, fragte der Mann am Berliner Rednerpult und antwortete dann gleich selbst: “Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber eben einen Dreiklang in Moll.”

Nein, diese Sätze stammen nicht aus einem Leitartikel oder einer Politikerrede 2023, sondern von einem Auftritt im Jahr 1997. Aus der später berühmt gewordenen Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Dass einem aber dieser Sound heute wieder so vertraut vorkommt, ist kein Zufall. Die politische Sprache, gerade die konservativer und liberaler Politiker, greift aktuell wieder ins Arsenal jener Jahre: Willkommen in der großen Neunzigershow!

Ganz vorne mit dabei: Carsten Linnemann, Neu-Generalsekretär der CDU. Der erklärt, Leistung müsse sich wieder lohnen, Fördern und Fordern müsse wieder gelten, das Land brauche eine Agenda 2030, und überhaupt: einen “Ruck 2.0”. Hier wird der Bezug auf Herzog, dessen Rede einst in dem Satz gipfelte, durch Deutschland müsse ein Ruck gehen, explizit. Linnemann findet: “Es geht uns heute leider wieder so wie in den späten Neunzigerjahren.”

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Die “Agenda 2030” müsste auf Stromnetze und Schuldenbremse zielen

Aber auch das Magazin erkennt eine Krise und klagt über deutsche Behäbigkeit. Es schlägt, ebenso wie Linnemann, eine “Agenda 2030” vor. Allerdings enthält die Reformagenda des Economists auch zwei zentrale Forderungen, die bei der CDU nicht vorkommen: den schnellen Ausbau der lange vernachlässigten Stromnetze, die “die Umstellung auf günstige, erneuerbare Energien ausbremsen und so die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie bedrohen”. Und ein Ende des deutschen “Fetisch” und der “Obsession” mit dem ausgeglichenen Staatshaushalt, sprich: der Schuldenbremse. Die hat die CDU einst erfunden und will sie auf jeden Fall beibehalten.

Beides, Stromnetze und staatliche Investitionen, spielten im Reformdiskurs der späten Neunzigerjahre keine Rolle. Der Bezug auf damals dient also auch dazu, jene Probleme zu verschleiern, für die seitdem vor allem die CDU verantwortlich war.

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Die Union hat stets verschlafen, was sie einfordert

Wenn nun die Union die politischen Umbauten von vor 20 Jahren als Vorbild für die Gegenwart feiert, hat das eine besondere Ironie: Nicht die 16-Jahre-Kohl-CDU setzte schließlich die von ihr geforderten Sozialreformen um. Das taten SPD und Grüne unter Gerhard Schröder. So wie auch nicht die 16-Jahre-Merkel-CDU das Land energie- und wirtschaftspolitisch reformiert hat, sondern SPD, Grüne und FDP das erledigen sollen.

In den Neunzigerjahren arbeitete die CDU zudem noch mit politischen Mitteln, die sie sich später verkniff. Sie sammelte beispielsweise 1999 in Hessen bei ihrer “Kinder statt Inder”-Kampagne gegen das neue Staatsbürgerschaftsrecht noch recht unverbrämt Stimmen gegen Ausländer. Ausgerechnet diese damals scharf kritisierte Kampagne lobte nun im Mai 2023 der heutige Parteivorsitzende Friedrich Merz bei einem Besuch in Hessen. Sie zeige die “Bereitschaft, sich in den streitigen Themen klar zu positionieren”.

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